
„Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen“
Journalism Summit: Reality under Construction, Qualitätsjournalismus zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Desinformation macht politische Meinungsbildung zunehmend schwer und bedroht die Demokratie. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen in der klassischen Medienlandschaft nicht repräsentiert und misstrauen ihr. Das war das zentrale Thema des Journalism Summit im Rahmen der MEDIENTAGE MÜNCHEN, bei dem die Themen Glaubwürdigkeit und Vertrauen im Vordergrund standen.
Vertrauen & Wissen sind der Schlüssel
Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung machen sich siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung Sorgen, dass „alternative“ Fakten immer schwerer von richtigen Meldungen zu unterscheiden sind. Diesen Punkt führte Dr. Nils Kumkar, Soziologe am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen, aus. „Repräsentative Umfragen finden immer wieder heraus, die Menschen machen sich große Sorgen um die Medienkompetenz der anderen“, sagte Kumkar. Deutschland befinde sich in einer Medienvertrauenskrise der zweiten Ordnung. Demnach vertrauen die meisten Menschen den Medien, denken jedoch, dass die anderen es nicht tun. Und das sei beunruhigend. Sein Wunsch an die Wissenschaft und den Journalismus: „Wir brauchen viel mehr Wissen über die sozialen Konflikte.“ Seiner Erfahrung nach sei es meist so: „Wenn wir das Gefühl haben, dass die Leute Probleme haben, uns zu verstehen, haben die Leute in Wirklichkeit Probleme, die wir noch nicht verstanden haben.“
Die österreichische Politikwissenschaftlerin und Autorin Natascha Strobl erklärte, dass es für die Menschen gerade zu viel sei, was alles passiere. Viele kämen mit den Multikrisen nicht mehr klar. Es gebe deshalb ein gewisses Unbehagen, das aus der Sicht vieler Menschen in eine schlechte Zukunftsperspektive münde. „Wer dieses Unbehagen auffängt, hat diese Leute“, erklärte die Rechtsextremismus-Expertin den Erfolg von Bewegungen am rechten Rand der Gesellschaft.
Um für polarisierte Teile der Gesellschaft Brücken zu bauen und den konstruktiven Dialog zu fördern, nutze das Recherchenetzwerk Correctiv den analogen Raum, erklärte Justus von Daniels, Chefredakteur des investigativen Recherchenetzwerkes. Die Non-Profit-Organisation hatte im Januar mit der Recherche „Geheimplan gegen Deutschland“ über ein Treffen von Rechtsextremist:innen in Potsdam für Aufsehen gesorgt. Bei dem Termin, bei dem neben AfD-Politiker:innen und Neonazis auch Unternehmer:innen vertreten waren, wurde unter anderem über eine Ausweisung von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen. Die Veröffentlichung löste bundesweit Demonstrationen aus. In der Folge suche man den Dialog und gehe selbst auf die Straße, erklärte von Daniels: „Journalismus hat die Aufgabe, ein Verständigungsort zu sein.“ Unterschiedlichen Personengruppen verschiedenster Altersklassen zuzuhören und sich gegenseitig ernst zu nehmen – das sei die Basis für konstruktive Gespräche. Es kommt laut von Daniels nicht selten vor, dass es vorher heiße: „Wisst ihr überhaupt, worüber ihr redet?“ und am Ende: „Ihr seid ja gar nicht so.“
Stern-Chefredakteur Dr. Gregor Peter Schmitz sagte, ihn beschäftige die Herausforderung, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. „Bei Corona haben wir zu lange gebraucht, kritische Fragen zum Sinn mancher Maßnahme zu stellen, da haben wir Lesende und Vertrauen verloren“, räumte Schmitz ein. Auch bei der Migrationspolitik sei mehr Hinterfragen sinnvoll gewesen. „Ich war Unterstützer von Angela Merkels Ansatz. Dadurch haben wir manch kritische Frage nicht thematisiert und uns dadurch angreifbar gemacht“, erklärte der Stern-Chefredakteur. Es gehe darum, Vertrauen wieder zurückzugewinnen.
Transparenz schaffen gehört zu Qualitätsjournalismus
„Wir müssen Transparenz schaffen und zeigen, wie wir arbeiten“, forderte Sonja Schwetje, Programmgeschäftsführerin von ntv und Chefredakteurin Wirtschaft und Netzwerke bei RTL. Es gehöre zum Qualitätsjournalismus, Einblick zu geben, wie Inhalte entstehen. Wenn es eine sogenannte „Lage“ gebe, bei der zunächst nur Gerüchte in sozialen Online-Netzwerken kursieren, dann würden User und Zuschauende darüber informiert, dass es noch keine Fakten gebe, Videos noch nicht verifiziert seien, man aber über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden halten werde, nach dem Motto: „Wir geleiten euch mit einer journalistischen Haltung durch.“ Dennoch würde das Publikum nicht an Kritik sparen. Besonders im Social-Media-Bereich seien die „negativen Auswüchse“ kaum mehr zu beherrschen gewesen, weshalb ihre Redaktion, so erläuterte Schwetje, die Kommentarfunktion unter Online-Inhalten teilweise abgeschaltet habe. Gleichzeitig würden die größten Kritiker in die Redaktion eingeladen. „Sie sind dann überrascht zu erfahren, dass das Bundeskanzleramt nicht bei uns anruft und die Themen vorgibt“, sagte Schwetje. Was ihr zunehmend Sorge bereite: „Wir müssen uns inzwischen genau überlegen, wen wir zu Recherchen rausschicken. Um von Demonstrationen zu berichten, braucht es starke, robuste Leute, und häufig buchen wir inzwischen auch Security-Personal zur Unterstützung“, berichtete die Programmgeschäftsführerin.
Auch die ARD muss sich kritischen Fragen und Kommentaren stellen. „Wir bekommen gefühlt jeden Tag tausend davon“, sagte Helge Fuhst, Zweiter Chefredakteur der Gemeinschaftsredaktion ARD aktuell. Dies sei einer der Gründe, weshalb man die Sendung „Tagesthemen Mittendrin“ eingeführt habe. „Darin gibt es Platz für die Fragen der Menschen“, sagte Fuhst. „Durch die Gespräche lernen wir voneinander und erfahren, was die Herausforderungen und die Lösungen sind“, erklärte Fuhst. Mit dem regelmäßigen Format würden Menschen, Regionen und die dort vorherrschenden Themen noch stärker in den Blickpunkt der Tagesthemen rücken. Es tue allen gut, Zuschauenden sowie Redaktionen, auch mal aus dem News-Cycle auszubrechen und den Fokus auf andere Themen zu legen. Sein Appell: „Wir müssen mutig entscheiden, auch über andere Themen zu berichten.“